Heute schon wieder geurteilt?
“Auch wenn du ein zutiefst spiritueller Mensch bist, brauchst du in dieser dualen Welt ein ‘gesundes Ego’ und Urteilsfähigkeit.”
So oder ähnlich hörte ich es nicht selten, gerade auch von Zeitgenossen, denen die Überwindung der “dualen Welt” zentrales Ziel ist.
Doch sind nicht beides – Ego und Urteil – Ursache dieser illusionären Welt? Können wir die Dualität wirklich verlassen oder überwinden, solange wir an ihrer Ursache festhalten?
Und wie würde unser Leben hier sein, wenn wir ohne Ego und Urteile durch die Welt gingen?
Überblick
- Können wir überhaupt urteilen?
- Mit unseren Urteilen haben wir die Welt so gemacht.
- Leichter gesagt als getan
- Das Kleinod der Unterscheidung
- Surfen statt kämpfen
- Bist du stets geistig offen?
- Segne statt zu urteilen
Können wir überhaupt urteilen?
Diese Frage stelle ich bewußt an den Anfang. Viel zu selten kennen wir nämlich die Vorgeschichten, kaum auch nur annähernd die wesentlichen und zweitrangigen Zusammenhänge. Sehr schön ins Bild gesetzt hat dies der libanesische Autor Mikhaïl Naimy in seinem wunderbaren “Buch des Mirdad” im Kapitel “Über Gericht und das Jüngste Gericht”:
“…Meidet jeden Richterstuhl, meine Gefährten. Denn um ein Urteil über irgend jemand oder irgend etwas auszusprechen, müßt ihr nicht allein das Gesetz kennen und in Übereinstimmung damit leben, sondern auch die Zeugen hören. Wen wollt ihr in welchem Fall auch immer als Zeugen hören?
Wollt ihr den Wind vor Gericht laden? Denn der Wind unterstützt und fördert jedes Geschehnis unter dem Firmament.
Oder wollt ihr die Sterne vorladen? Denn sie sind vertraut mit allem, was auf der Welt geschieht.
Oder wollt ihr Vorladungen an alle Toten von Adam bis auf den heutigen Tag schicken? Denn alle Toten leben in den Lebenden.
Um in einem bestimmten Fall ein vollständiges Zeugnis zu haben, muß der Kosmos notwendigerweise Zeuge sein. Wenn ihr den Kosmos zu Gericht laden könntet, würdet ihr keine Gerichte mehr nötig haben. Ihr würdet von euren Richterstühlen herabsteigen und den Zeugen Richter sein lassen.
Wenn ihr alles wißt, werdet ihr niemanden richten.”
Mit anderen Worten: Wir können nie auch nur einigermaßen gerecht urteilen, ohne das ganze Universum als Zeugen zu laden. Jede von uns erinnert sich wahrscheinlich zur Genüge an eigene Fehlurteile in der Vergangenheit.
Einzig Gott – Allah, Brahman, Tao, das ICH BIN – hat den Überblick und wirkliche Urteilskraft. “Wenn ihr alles wißt, werdet ihr niemanden richten.” Warum?
- Erstens weil auch in der illusionären Welt der Maya durch das Karma-Gesetz Gerechtigkeit herrscht.
- Zweitens weil alles mit allem verbunden ist und jedes Urteil auf uns zurückfällt. Wir verurteilen uns nur selbst.
Sollten wir deshalb nicht mit unseren Fehl-Urteilen aufhören?
Mit unseren Urteilen haben wir die Welt so gemacht.
Ja, denn es sind genau diese Fehl-Urteile, mit denen wir unsere Welt zu einer sehr unvollkommenen Welt gemacht haben. Ist nicht jedes Urteil zwangsläufig ein Angriff gegen das be- oder verurteilte Gegenüber? Und bedeutet nicht Angriff immer Unfrieden, wenn nicht Krieg?
Willkürlich wählen wir aus, was sein darf und was nicht. Genau damit geraten wir jedoch immer wieder in Konflikt mit anderen.
Mit unseren eigenen Urteilen und willkürlicher Auswahl trennten wir uns gedanklich von unserem göttlichen Selbst und damit auch von Gott. Das “Essen vom Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen” warf uns aus dem Paradies in die duale Traumwelt. Plötzlich waren wir, “von allen guten Geistern verlassen”, allein und für alles verantwortlich.
Scheinbar gezwungen zu harter Arbeit, genötigt zu ständigem Konflikt und verdammt zu ständigem Leid.
Die gute Nachricht: Sobald uns diese Zusammenhänge bewußt werden, können wir uns Schritt für Schritt befreien.
Leichter gesagt als getan
Wir können als erste Maßnahmen das Urteilen aufgeben. Doch das ist leichter gesagt als getan. Auch ich erkenne nicht immer sofort, in welcher meiner Betrachtungen Urteile mitschwingen und verborgen sind.
Wir können es leichter erkennen, wenn wir vom Ergebnis ausgehen. Die Welt wie ich sie sehe, ist Resultat meiner Projektionen und Urteile. Ist sie friedlich? Ist sie liebevoll? Nein. Zumindest nicht, wenn ich Richtung Krieg und Korruption, Verrat und Manipulation schaue.
Genau das aber habe ich in den letzten Jahren zu intensiv getan und schnell die Quittung dafür bekommen. In Form von “chronischen” Rücken-Verspannungen.
Auch wenn ich nicht im Einzelnen erkenne, wo ich geurteilt habe oder noch urteile, kann ich jetzt sofort eine bewußte Wahl treffen:
“Ich mache die Welt von allem los, wofür ich sie hielt.“ Diese Lektion in Ein Kurs in Wundern erklärt sehr schön die Wirkung unserer Gedanken auf die Welt und beschreibt, wie wir die Welt von ihnen erlösen können.
Es ist quasi gleichzeitig ein Prozeß der Vergebung der eigenen Irrtümer und ein Erkennen der Illusion der Traumwelt.
Das Kleinod der Unterscheidung
Wie kommen wir jetzt aus dieser Traumwelt wieder heraus? Erstens durch konsequentes Aufgeben sämtlicher Urteile und eigenwilliger Projektionen. Zweitens durch das “Kleinod der Unterscheidung“.
Im gleichnamigen Buch des indischen Gelehrten und verwirklichten Yogi Shankara lernen wir die zentrale Bedeutung der Unterscheidungsfähigkeit für unser Erwachen aus der Maya – Traumwelt.
Während unser Ego-Verstand permanent auf urteilende Weise das Traumleben bestreitet, haben wir zusätzlich eine höhere Intelligenz zur Verfügung. Diese Intelligenz erlaubt uns, die allumfassende, einheitliche Wahrheit von diverser weltlicher Täuschung unterscheiden zu lernen.
Unterscheiden können ist etwas ganz anderes als urteilen. Wenn wir im Alltag von erforderlichem Urteilsvermögen sprechen, meinen wir oft eigentlich Unterscheidungsvermögen.
Indem wir unsere Unterscheidungsfähigkeit nutzen und kultivieren, sind wir fähig, in die Wahrheit Gottes zu erwachen und die Welt als das wahrzunehmen, was sie ist:
Ein zeitlich sehr ausgedehnter Traum, der uns für eine Weile unserer Entwicklung zu dienen scheint. Bis wir merken, daß unser göttliches Selbst längst vollkommen ist und wir einfach aufwachen können.
Eckhart Tolle, Stille spricht
Surfen statt kämpfen
Sobald wir aufwachen, spüren wir zunehmend, daß unser Leben einfacher wird. Und wir fühlen immer häufiger eine grundlose Freude, wenn wir quasi ohne Urteil und Nachdenken auf der Welle des Lebens surfen – eins mit allem was ist.
An dieser Stelle spätestens fragst du dich womöglich, wie du den Alltag ohne ein ‘gesundes Ego’ und ‘gesundes Urteil’ meistern kannst.
Probiere es aus. Du wirst überrascht sein.
Unser kleines Ego ist permanent unterwegs, alles ändern zu wollen, in der Annahme, dass wir sonst zwangsläufig zugrundegehen. Doch seine Maßnahmen gehen immer wieder nach hinten los und verschlimmbessern die Lage. Individuell oder für die Menschheit insgesamt.
Dabei ist im Grunde alles viel einfacher. Ohne ständige Kontrolle durch unsere Ego-Instanz geht nämlich nichts den Bach runter. Weder “Krankheit” noch Chaos wird durch Aufgabe dieser Kontrolle die Tür geöffnet.
Im Gegenteil: Wie der Titel eines Buches von Lola Jones es direkt beschreibt: Alles läuft super, während ich weg bin! Also während das Ego weg ist.
Bist du stets geistig offen?
Ist dir auch schon aufgefallen, daß wir uns alle bestimmten sog. “Bewußtseins-Blasen” zuordnen? Wir grenzen uns unwillkürlich voneinander ab – in all unseren Überzeugungen, ob religiös oder weltanschaulich.
In solch einer Blase sind wir oft quasi wie gefangen. Gefangen deshalb, weil Angehörige einer Blase sehr selten Interesse oder genügend Offenheit haben, sich mit als fremd empfundenen Ansichten einer anderen Blase auseinanderzusetzen. So bleiben wir in unserem eigenen “Sumpf” stecken, statt mit Andersdenkenden in einen konstruktiven Austausch zu gehen.
Unser Ego braucht stets eine geeignete Bestätigung. Und die findet es in der Blase, für die es sich irgendwann entschieden hat. Und es sorgt gern dafür, sich mit diversen Urteilen scharf abzugrenzen.
Geistige Offenheit auf der anderen Seite ist eine zentrale Vorbedingung für wahrhaftiges Vergeben-können. Sie entsteht automatisch, sobald wir mit dem Urteilen aufhören, das den Geist verschlossen hält.
Segne statt zu urteilen
Geistig offen können wir uns endlich unbeschwert dem Fluß des Lebens hingeben und beherzt auf Unbekanntes zugehen. Nicht länger als unzufriedener Konsument, sondern jetzt als erwachtes, bejahendes, aktives Wesen, das ALLES LEBEN als heilig ansieht und segnet.
Vielleicht fällt es uns zu Anfang noch schwer, wirklich alles zu segnen. Denn das bedeutet auch, alles bedingungslos zu lieben. Doch allein schon unsere aktive Selbst-Beobachtung läßt uns leicht erkennen, wo wir nicht lieben können. Wir finden dann oft ziemlich schnell heraus, was uns hindert.
Und wir können sicher sein, daß uns das Leben auf passende Weise mit dem konfrontiert, was wir zu unserer Heilung brauchen. Und für unsere Fähigkeit zu lieben.
Jedes Ereignis sollten wir annehmen und für unsere Heilung und Entfaltung nutzen.
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Danke lieber Rainer🙏🙏🙏